Leutesheim in den
letzten 100 Jahren
∙ Westwallbau 1937/38
Ein Auszug aus dem
Buch "Leutesheim - ein Dorf im Hanauerland und seine Kirche"
von H. Schäfer, U.
Schüz u. a., 1990
Im
Jahr 1937 wurde Leutesheim ohne eigenes Zutun zu einem
ungewöhnlichen Mittelpunkt: es begann der Bau des Westwalls. Die
ersten Lager des Reichsarbeitsdienstes entstanden im Langensand.
die RAD-Männer pflanzten zunächst entlang der Uferböschung des
Rheindammes viele Sträucher, man erhielt die Auskunft, diese
Maßnahme diene dem Vogelschutz. Der entstehende grüne Wall
sollte aber als Tarnung dienen. Große Baufirmen aus dem ganzen
Reichsgebiet richteten nun ihre Baustellen ein, man entdeckte
Firmen aus Württemberg, Bayern, aus dem Rheinland, ja aus
Hamburg, Magdeburg, Schlesien u. a., die Zahl der Bauarbeiter
ging in die Hunderte. Firmen, die in der Nähe ansässig waren,
schickten ihre Arbeiter mit Bussen hierher. Teilweise wohnten
auch die Familien der Bauarbeiter im Dorf, die Gasthäuser waren
voll besetzt.
Tag und Nacht wurde gearbeitet, mit Flutlicht wurde dies möglich
gemacht. Scheunen und Schuppen wurden als Materiallager
angemietet. Bürgermeister Karl Sänger vermutet, dass die
abgeordneten Bauarbeiter nicht die besten ihrer Firmen waren
(sicher waren es solche, die sich freiwillig zu diesem Einsatz
„fern der Heimat“ gemeldet haben), denn die Polizeikräfte
„hatten reichlich zu tun“, berichtet er. Es waren hier „vier
Gendarmen, drei blaue Polizisten aus Frankfurt und der
Ortspolizei tätig. Der Ortsarrest war nie leer“. Es wurden hohe
Löhne und Auslösungen bezahlt, aber ein großer Teil wurde gleich
wieder in Alkohol umgesetzt, wie Alfred Sänger zu berichten
weiß. Ein hauch „Wilder Westen“ kehrte beim Westwallbau hier
ein, es war eine aufregende Zeit für die Dörfer entlang des
Rheins.
Links: Das
Lager des Reichsarbeitsdienstes am Langensand. Rechts: Beim
Kartoffelschälen im Arbeitslager.
Höhepunkt war
immer der Schichtwechsel, 10-15 Omnibusse warteten im Dorf. Eine
Feldküche mit fünf großen Kesseln war unter den Akazien beim
Farrenstall (heute Feuerwehrhaus) eingerichtet worden, die
Versorgung war reichlich. Die Mahlzeiten wurden von
Dorfbewohnern zubereitet und in Behältern zu den Baustellen
gefahren. Um so fragwürdiger war die Organisation der
Materialbeschaffung: Kies, Eisen, und Zement wurden durchweg aus
großen Entfernungen hierher transportiert, aus dem Rheinland,
selbst aus Holland kamen die Kähne den Rhein herauf, wurden im
Kehler Hafen gelöscht, dann wurde das Material auf Lastwagen
hierher zu den Baustellen transportiert. Die Damals enge Straße
von Kehl her wurde zu diesem Zweck asphaltiert, dennoch kam es
hin und wieder zu chaotischen Verhältnissen. Karl Sänger
berichtet: „Beim Rathaus sind eines Tages mehr als einhundert
Autos von allen Seiten ineinander gefahren und in der Mitte
befand sich die Tochter von Bürgermeister Kimmer mit ihrer
Motormähmaschine, so dass die Polizei mehrere Stunden brauchte,
bis alles wieder flott war“.
Im Ort selbst wurden mehrere Bunker gebaut, sie waren teilweise
als „Häuser“ getarnt, hatten aufgemaltes Fachwerk und ein Dach
über der Betondecke. sogar Kunstmaler Gutekunst aus Kehl wurde
hier tätig. Die zentrale Baustellenleitung war in der „Krone“
untergebracht. Auf der ganzen Markung Leutesheim, vor allem in
den Wäldern entlang des Rheins und auf den Flächen gegen Linx,
aber auch im Altenbruch wurden insgesamt 65 Bunker errichtet. Es
wurde im Akkord gearbeitet. die bis zu einem Meter dicken Wände
und Decken musste in einem Arbeitsgang betoniert werden.
Der als Bauernhaus getarnte Bunker im Obereck.
Über den Sinn
und Wert des gewaltigen Vorhabens waren die Meinungen schon
damals geteilt. Der Einzug der deutschen Truppen in Frankreich
kurz nach Fertigstellung der Anlagen führte das ganze
Unternehmen zunächst ad absurdum. Verteidigung in einem
Angriffskrieg konnte letztlich nur propagandistischen Wert
haben. Im weiteren Verlauf des Krieges wurden die Bunker als
Luftschutzbunker genutzt. Ab November 1944 waren sie dann von
Soldaten besetzt. Das schwere Hochwasser überflutete sie alle.
Der Einmarsch der französischen Truppen erfolgte von Norden her,
also nicht über den Rhein. Später wurden die Bunker der Reihe
nach gesprengt.
Bunkerruinen am Rhein in den 50er Jahren.
Seit einigen
Jahren werden sie eingegraben, kleine Erdhügel sind die letzten
Zeugen. Im Dorf sind sie durchweg beseitigt. Die noch
vorhandenen Bunker-Ruinen sollten unbedingt erhalten werden, sie
haben sich als wichtige „Ökonischen“ erwiesen, vor allem aber
sind die Zeitdokumente mit Denkmalswert.
Schulausflug zum Rhein, im Hintergrund Bunkerruine (1948)
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