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Leutesheim in den letzten 100 Jahren
 
∙ »Litzemer Geschichten«

Ein Auszug aus dem Buch "Leutesheim - ein Dorf im Hanauerland und seine Kirche"

von H. Schäfer, U. Schüz u. a., 1990

Es sind weniger die großen, gleichwohl höchst wichtigsten Ereignisse, die die Menschen eines Dorfes im Ablauf der Tage und Wochen beschäftigen. Die kleinen Begebenheiten, deren Reiz in ihrer Aktualität liegt, sind so etwas wie das „Salz in der Suppe“ des Lebens.
In den Laden geht man, um Brot zu kaufen, aber was alles an Neuigkeiten bringt man mit! So ist das Leben niemals eintönig, eher aufregend. Ein beliebter Treffpunkt war früher die Linde zwischen Rathaus und Kirche. Sie wurde gepflanzt, als man das Kriegerdenkmal für den 70er Krieg errichtete und man sagt, dass die Kinder von ihrem Gipfel aus die Rheinschlepper ausmachen konnten. Auf der Bank unter der Linde ruhten sich Durchwanderer aus, auch jüdische Kaufleute aus Bodersweier, die dort warteten, bis die Leute vom Feld heimkamen, um mit ihnen noch ein Geschäft abzuschließen. Eine zweite Linde, hieß Friedenslinde.

Bürgermeister Karl Sänger und der „Bott“, Georg Keck, 1937


Als 1919 im „Adler“ und der „Sonne“ Marokkaner einquartiert waren, für die ins Jergels Tabakschopf gekocht wurde, da gab es bei der Linde eine Kletterstange zum Üben und zum Zeitvertreib. So war immer Leben dort. Karl Sänger hält in einem gemütvollen Gedicht Zwiesprache mit dem Baum, der ihm ans Herz gewachsen ist. Er schildert auch, wie der Baum im März 1945 durch Beschuss schwer beschädigt wurde und kurz vor Weihnachten 1948 der Axt zum Opfer fiel; er war nicht mehr zu retten, knapp 80 Jahre alt.

Die Linden in der Ortsmitte beim (alten) Rathaus und Kirche.


Es gab natürlich auch andere beliebte Treffpunkte im Dorf. Zu ihnen gehörte das Milchhäusel, an dem reizvollen Platz bei der Tuchbleiche, beim späteren Bahnhof und Güterschuppen. Dort gab es Grün, mitten im Dorf, der Bach hatte etwas Anheimelndes, am anderen Ufer befanden sich der Farrenstall und der Dreschschopf. Dieser Platz, um den es heute sehr still geworden ist, hat immer noch etwas Anziehendes. Das Milchhäusel wird in Ehren gehalten. Während man dort früher die Milch ablieferte, muss man sie heute „ins Berbe“ kaufen.

Zeichnung der ersten Leutesheimer Obsttrotte.
 

Es gab drei Dreschmaschinen im Dorf Eine stand in der Mühle, wohin die Bauern mit ihren Grabenwagen fuhren. Der „Becke Jogel“ hatte eine mobile Maschine, mit der er bei den Bauern in den Anwesen gedroschen hat. Die dritte Dreschmaschine gehörte dem „Bureverein“ und stand im Dreschschopf beim Farrenstall (heute Genossenschaft). Es wird erzählt, dass von der Maschine im Dreschschopf nach Reparatur und Wiederzusammenbau im letzten Krieg ein Korb voll Schrauben und andere Teile übrig waren. Sie war natürlich nicht mehr in Gang zu bringen.

Auch der andere Treffpunkt ist verlassen: Die Obsttrotte. Sie befand sich hinter dem alten Löwen und war wohl eine der ersten öffentlichen Gemeindetrotten, die eingerichtet wurden. Sie bestand aus einem etwa acht Meter langen Stamm, der einen stehenden Mühlstein in einem Steintrog führte. In den Trog schüttete man das Mostobst, das durch den Stein zerquetscht wurde, danach wurde das zermahlende Obst ausgepresst. Die gemeinsame Arbeit an der Trotte machte Spaß. Am Balkon drückten die jungen Leute den Mahlstein hin und her, manche Bekanntschaft entstand bei solchen Gelegenheiten.

„Bächlers Bruck“ (1914) und die Furt durch den Bach, wo das Vieh seinen Durst stillte.


Unser Dorf, auf alten Landkarten im 17. und 18. jahrhundert „Litzen“ genannt, war nie groß oder bedeutend, hatte aber doch eigene „Ortsteile“, die sich erhalten haben, waren sie doch letztlich „Heimat“ im engeren Sinne. Ob die Musau ihren Namen in Straßburg entliehen hat, ist fraglich. Die alten Häuser liegen meist im Bogen, den der Gießelbach im Dorf bildet. Er bildete nach drei Seiten so etwas wie eine Ortsgrenze. Drei Brücken gab es im Dorf, über zwei führt heute die Straße Auenheim – Honau, die dritte ist „s’ Bächlers Bruck“ hinter dem „Adler“, durch die man das Vieh führte, das dabei regelmäßig das saubere Bachwasser trank. Die alten Wege von Bodersweier zum Rhein und von Auenheim zu den Dörfern nördlich kreuzten sich an der Kirche, deren Turm „fast unzerstörbar“ (Karl Sänger), mit großem Abstand das älteste Bauwerk im Dorf ist.

Die Kirche stand früher am höchsten Punkt im Dorf. Im Laufe der Jahrhunderte sind freilich die sie umgebenden Straßen und Plätze durch Ausbau immer höher geworden.

Offizielle Straßennamen gab es früher in Leutesheim nicht, nur einige Straßen in der Ortsmitte hatten alte Dorfnamen, wie z. B. die „Viehgasse“ (Rathausstraße), „Ahgasse“, „Schingergässel“ (Akazienstraße), „Kirchgasse“ (Poststraße), „Steingrube“. Die „Schingergasse“ hatte den Namen, weil dort früher die Tierkadaver vom Schinder auf Pritschen gezogen wurden, um vergraben zu werden.

Musau (um 1930)


Zu den östlich gelegenen Ortsteilen sagt man heute noch „über den Schienen“, obwohl diese schon seit Jahrzehnten entfernt sind. Drei Randbereiche hatte das alte Dorf. Das „Veddereck“ (Vordereck) begann gleich hinter der alten Schule nach Osten hin. Das „Ewereck“ (Obereck) umfasste alle Häuser südlich der „Sonne“, das Hingereck“ (Hintereck) alles vom alten Löwen zum Rhein hin. Dazu kamen später noch ab den 20er Jahren die „Musau“ (Richtung Honau) und noch später das „Grottenloch“ (Linxer Straße). Das „Naudorf“ (Neudorf), früher auch „Schuldenbuckel“ genannt, schließt den Kreis.

Zurzeit von Bürgermeister Karl Sänger, dem das Dorf vieles verdankt, entstand die „Waldesruhe“, ein Holzpavillon im Altenbruch. Er war lange Zeit das Ziel des sonntäglichen Spazierganges. Manche Schulklasse führte dort sogar Märchenspiele oder Reigen vor. Ein Fest des Radfahrvereins brachte die Mittel für Holz und Baumaterial. Man machte dort Rast mit dem Vesperkorb oder genoss einfach die Kühle des Waldes. Die Kinder vergnügten sich auf dem Spielplatz, der in Notstandsarbeit unter Karl Sänger angelegt wurde. Dort befand sich auch die „Manuelsruhe“, eine von dem jüdischen Händler Emanuel Merklinger gestiftete Sitzbank, die er selber auf seinen Gängen von Bodersweier oft benutzte. Untrennbar ist der Platz im Altenbruch mit vielen gemütlichen Festen (vor dem letzten Krieg) verbunden. Eine alte Aufnahme von der Mühle, am Rand des Altenbruchs gelegen, zeigt, dass man auch dort feiern konnte, gab es doch dort einen Bierausschank.

Lehrer Hopp im Altenbruch beim Holzpavillon „Waldesruhe“, 1925



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Aktives Dorf Leutesheim, September 2009