Leutesheim in den
letzten 100 Jahren
∙ Der »Köpenicker«
Ein Auszug aus dem
Buch "Leutesheim - ein Dorf im Hanauerland und seine Kirche"
von H. Schäfer, U.
Schüz u. a., 1990
Zu
den Ereignissen der letzten Kriegstage gehört auch die Episode
mit dem falschen Ortskommandanten, einer zwielichtigen,
schillernden Figur, einem Mann, der hier offenbar unterzutauchen
versuchte. Jeder Tag brachte damals etwas Neues, Unerwartetes –
und, es waren nicht immer gute Neuigkeiten.
Friedel Keck, geb. Ross, die damals auf dem Rathaus tätig war,
beschreibt diese Zeit so:
5. Mai 1945; der Morgen verlief wie gewohnt. Nachmittags, kurz
vor 14 Uhr, bin ich auf dem Weg zum Bürgermeisteramt. Beim Haus
August Binder in der Hauptstraße kommt mir der kommissarisch
eingesetzte Bürgermeister Karl Sänger mit einem Mann entgegen,
der er mir als den neuen Ortskommandanten vorstellt. Ich weiß
zunächst mit dieser Person nichts anzufangen. Der Mann hat
deutsche Kommissstiefel an, eine olivgrüne Hose (russisch?),
eine Jacket der französischen Armee, ein Barett auf dem Kopf,
ein deutsches Gewehr ohne Schulterriemen, er sieht aus wie eine
Witzfigur. Ich frage Herrn Sänger, ob das das Vorkommando wäre,
oder ob die Truppen schon hier seien? Zu meinem Erstaunen
antwortet der Fremde deutsch, er sagt, er sei alleine hier in
einer ganz bestimmten und geheimen Mission, die er von General
de Gaulle erhalten hat, deshalb auch seine Kleindung. Es war
alles unheimlich. Es gab ja keine Polizei mehr, kein Landratsamt
oder sonst eine Behörde, an die man sich wenden konnte.
Ich wurde aufgefordert, mitzugehen auf die Suche nach geeigneten
Räumen für die „Kommandantur“. Das Frisörgeschäft Hermann Keck,
Rheinstr. 166 schien das Richtige zu sein. Hier wurden zwei
Räume beschlagnahmt, der Kommandant bezog hier ein Zimmer im
Oberstock.
Haus im
Rohbau, Frisörgeschäft Hermann Keck 1928, Hauptstraße / Ecke
Rheinstraße
Gleich die
erste Nacht verlief ziemlich turbulent. Doch den Ortsboten, den
hier verheirateten Polen Franz Muszinski, hatte der Kommandant
bekanntgeben lassen, dass nachts keine Haustüre verschlossen
werden darf. Die Angst unter der Bevölkerung war groß, man
rechnete in diesen letzten Kriegstagen mit allen möglichen
Überraschungen. Ich glaube, dass auch der Fremde Angst hatte. Er
war hektisch, immer unterwegs, immer unruhig, immer musste
jemand bei ihm sein. Hatte er ein schlechtes Gewissen? In der
Nacht holte er sich zwecks Hausarbeiten ein ukrainisches Mädchen
aus der Nachbarschaft. (Als Arbeitskräfte waren dem Dorf 13
Mädchen aus Russland zugewiesen worden). Olga musste das Essen
probieren. Anscheinend meinte er, es könnte vergiftet sein. Sie
hat viel geweint, sie musste auch dort schlafen, angetan hat er
ihr aber nichts.
Eines Nachts um halb zwei drang er in das Haus Robert Reiß
(Metzgerei) ein. Robert musste aufstehen und den Herrn auf
seinem nächtlichen Streifzug durch das Dorf begleiten. Ab und zu
gab er einen Schuss aus dem Gewehr ab, das er immer bei sich
hatte. Es schien, als brauchte der Fremde keinen Schlaf, ständig
hielt ihn eine merkwürdige Unruhe in Bewegung.
Leutesheim war dem französischen Kommandanten in Auenheim
unterstellt. Der Erste Offizier kam jeden Morgen hierher aufs
Rathaus. Er hatte einen Dolmetscher und fragte, ob alles in
Ordnung sei. Dieser Offizier war ein höflicher, sehr korrekter
und eher distanzierter Franzose. Es bestand absolutes
Plünderungsverbot für alle Soldaten der Besatzungsmacht. Am 6.
Mai kam der Offizier auf die neu eingerichtete Kommandantur bei
Frisör Keck. Es gab einen erregten, heftigen Wortwechsel mit
unserem Kommandanten. Offenbar wusste der Offizier nichts von
ihm. man schien sich dann aber zu verständigen und gab sich
schließlich die Hand. Unser “Fremdling“ atmete erleichtert auf,
offenbar war er akzeptiert worden.
Im Dorf führte er nun sein eigenes Regiment. Schon zu Beginn
ließ er ein Fass Apfelmost des Waldhüters Christian Zimpfer auf
die Kommandantur bringen. Er dachte dann aber auch an die
Bevölkerung, beschlagnahmte ein Schwein von Georg Scheer zur
Versorgung im Dorf. Er hielt dann nach Brot Ausschau und ließ
mit einem Wagen (bespannt mit dem Maulesel von Gretel Reiß, geb.
Keck) Brot aus Bodersweier holen. Den Transport begleiteten
Gretel Reiß und Friedel Ross. Er selbst befand sich im hinteren
Teil des Wagens, das Gewehr entsichert. Weil das Brot nicht
reichte, wurde der Transport wiederholt. Auch Getreide
beschlagnahmte er; es war durch die Evakuierung nicht
abgeliefert worden. In der Diersheimer Mühle wurde es gemahlen.
Als der Kohlenmangel vor allem beim Schmied problematisch wurde,
sann der Fremdling auf Abhilfe. Es war bekannt, dass im Kehler
Hafen große Mengen Kohle lagen. Unser „Fremdling“ stellte eine
Bescheinigung auf den Empfang von 200 Ztr. Kohle aus,
unterschrieb mit seinem Namen, Lehmen und seinem Auftrag:
Vertreter des General de Gaulle. Kranführer Wilhelm Reiß fuhr
mit zwei Wagen und Bulldog von Karl Hummel und sechs Mann
Begleitung nach Kehl. Die Stadt war abgeriegelt, der Zug brachte
die vielen Kontrollen hinter sich, man belud die Wagen bei der
Firma Haniel und war gegen Mittag mit 180 Ztr. Kohle wieder im
Dorf. Die Köpenickade hatte geklappt.
Der Fremdling gewann nun mehr Sicherheit. Weil er Apfelmost
besonders schätzte, kam er auch in die Häuser. Dort erteilte er
Ratschläge, z. B. zur Ernährung: Er empfahl der 87jährigen
Großmutter im Haus Johann Thorwarth leichte Speisen wie Fisch,
und brachte dann anderntags auch Fisch ins Haus.
Eines Tages ließ er das Schulhaus, dessen Räume sich in einem
schlimmen Zustand befanden, gründlich säubern. Abends um 6 Uhr
hatten sich die Frauen mit Besen und Schaufel am Rathaus
einzufinden. Bürgermeister Sänger musste die Arbeit überwachen,
auch die Anordnung, bei der Arbeit Lieder zu singen. Dazu fehlte
freilich die Stimmung ganz und gar. Im Schulhaus hatten Soldaten
gehaust. Der zerschlagene Hausrat, ein Teil der Einrichtung der
Lehrerwohnung, Glas, Bettfedern, Stroh von Strohlagern – alles
zusammen ergab mehrere Wagen Schutt.
Auch die Kirche ließ er auf diese Weise reinigen. Sie war durch
verschiedene Angriffe stark beschädigt, der Innenraum voller
Bauschutt und Staub. Über 40 Frauen und Mädchen machten sich an
die Arbeit, er beaufsichtigte das Treiben von der Kanzel aus.
Vom Altar aus im Gottesdienst ermahnte er dann die Helferinnen
und die Gemeinde, immer „fromm zu sein und die Worte des Herrn
Geistlichen in ihrem Herzen zu behalten“ (Karl Sänger). Dann
kündigte er an, Schokolade für die Frauen und Bier für die
Männer als Belohnung zu beschaffen. Er veranlasste dies auch
gleich am Montag, zur Verteilung kam es aber nicht mehr, weil
unser „Fremdling“ verhaftet wurde.
Seine Maßnahmen in Linx sind eher fragwürdig. Karl Sänger
schilderte, dass er dort mit einem Haftbefehl, den er selbst
ausgestellt hatte, einen Polen festnehmen ließ, ihn bedrohte und
einsperrte, der Verhaftete konnte aber fliehen. Die Leutesheimer
erhielten auch ohne große Schwierigkeiten Pässe für ganz
Deutschland, ausgestellt mit den Stempeln des
Bürgermeisteramtes.
Bürgermeister Karl Sänger, anfangs vom falschen Kommandanten
selbst unter Zwang gefügig gemacht in seinem Haus am Rheindamm,
berichtete über viele Ereignisse mit dem Mann, der sich immerhin
einige Wochen der Verhaftung entziehen konnte. Er schrieb in
seinen Erinnerungen, dass es sich um einen elsässischen
Gestapo-Mann (Geheime Staatspolizei, kurz „Gestapo“;
kriminalpolizeilicher Behördenapparad, 1933-1945) gehandelt
habe, der hier unterzutauchen versuchte. Er hieß Lehmann, sei in
Offenburg entwichen und seither verschwunden. Sänger schloss
seinen Bericht mit dem Satz:
„Nach vielen Jahren wird man in Leutesheim noch vom falschen
Ortskommandanten reden.“
Nächstes Kapitel: "Bi de Großel schloofe"
Erscheinungsdatum: Sonntag, 30.08.09
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