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Leutesheim in den letzten 100 Jahren
 
∙ Der Kindergarten

Ein Auszug aus dem Buch "Leutesheim - ein Dorf im Hanauerland und seine Kirche"

von H. Schäfer, U. Schüz u. a., 1990

Durch die Tätigkeit von Regine Jolberg hatte Leutesheim schon einen Kindergarten, als anderswo noch nicht zu denken war. Zwar wurde wohl auch in den Dörfern landauf, landab über Sinn und Notwendigkeit dieser Einrichtung nachgedacht, hier aber ergab es sich durch die Initiative von Pfarrer Fink und das pädagogische Geschick von Regine Jolberg, dass im Sommer 1840 eine Arbeit begann, die Modellcharakter hatte, obwohl dies zunächst keineswegs beabsichtigt war. An den Kindern des Dorfes hat „Mutter Jolberg“ die Grundsätze eines Pestalozzi und ihre eigenen erprobt und ihr Ausbildungsprogramm für die Schwestern gestaltet und durchdacht. Der Kindergarten in den beiden Häusern in der Kronenstraße war von der Liebe zu Sache, einer tiefen Frömmigkeit und dem pädagogischen Können der Leiterin und den jungen Kinderschwestern geprägt. Dass es auch schwierige Situationen gab, vor allem in finanzieller Hinsicht, konnte den ideellen Wert dieser jungen Einrichtung und ihre Bedeutung für das Dorf und das ganze Land nicht schmälern.

Vor der alten Kinderschule (1909)

So bedeutete der Weggang von Regine Jolberg und ihrer Schülerinnen ein schmerzliches Ereignis für das Dorf. Es ist bezeichnend, dass keine der in der Ausbildung befindenden Kinderschwestern daran dachte, die Gemeinschaft zu verlassen. Es galt als ausgemacht, dass das Werk weitergeht, wenn auch an einem anderen Ort.

In Leutesheim gab es zunächst keinen Kindergarten mehr. Es ist bezeichnend für die Idee der Revolution, dass man zwar auf Bewährtes verzichten wollte, dass es aber am Ersatz völlig fehlte Es wird berichtet, dass Regine Jolberg bald, von Langenwinkel aus, sechs neue Kinderpflegen gegründet hat. Die Arbeit entwickelte sich also im Stillen weiter.

Um ca. 1860 wurde wieder ein Kindergarten eröffnet, wahrscheinlich in dem kleinen Fachwerkhaus im Obereck (früher Hauptstraße 11, „Schnieders“), Schwestern aus dem Mutterhaus Nonnenweier betreuten die Kinderschule.
Die Genügsamkeit der Schwestern und die Bescheidenheit der Kinder muten uns heute fast wunderbar an. Das kleine Haus besaß einen Raum, keinen Garten, es liegt eingezwängt zwischen den Nachbarhäusern an der – damals freilich noch ruhigen – Hauptstraße. Bis zu 60 Kinder besuchten den Kindergarten und wurden von einer Schwester und einer Helferin (halbtags) betreut. Es ging trotzdem fröhlich zu. Die Schwester erzählte jeden Tag eine biblische Geschichte, man sang viel und machte mit den Händen einfache Spiele, meistens gemeinsam. Einige der damaligen Kinder erinnern sich heute noch, nach über 80 Jahren, an manche Lieder, die gerne gesungen wurden.

Wie z. B. das

Kartoffellied

Kartoffel, Kartoffel, wer isst euch nicht gern,
die Reichen, die Armen, die Bauern, die Herren.
Man kann euch ja brauchen zu Supp und Salat,
gebraten, geröstet auf mancherlei Art.
Und fehlt es an Fleischwerk und fehlt es an Schmalz,
so rutschen sie abgekocht auch durch den Hals.


Von der praktischen Art und Weise der Erziehung, die auch damals schon kindsgemäß war, zeugt der

Montagsspruch

Frisch gekämmt und frisch gewaschen,
das Gesicht und auch die Händ’.
Und ein reines Taschentüchlein,
das darf nicht vergessen sein.


(Das Taschentüchel wurde mit einer Sicherheitsnadel an das Kleid geheftet).

Schwester Margarethe mit ihren Kindern (1928)

Die beengten Verhältnisse machten eine Änderung immer dringender notwendig. Bürgermeister Karl Sänger nahm bald nach seiner Wahl im Jahr 1928 dieses Vorhaben in Angriff, er hatte die breite Unterstützung der Bevölkerung. In den Jahren zuvor konstituierte sich hier, wie auch in den Nachbarorten, auf Anregung der Großherzogin Luise von Baden der Frauenverein (heute „Freundeskreis Diakonie“), dessen Einzieherin, Else Reif, das Einsammeln des Kindergarten-Elternbeitrages übernommen hatte. Es waren pro Woche 25 Pfennig, die auch wöchentlich bei den rund 45 Familien abgeholt wurden und an die Rechnerin der Kirchengemeinde, Elisabeth Asmus (gen. „Pfarrtante“, sie war die Haushälterin von Pfarrer Bauer) abgeführt wurden.

Für die Gebäude des Kindergartens war von jeher die bürgerliche Gemeinde zuständig. Der Neubau sollte solide und mit einer Wohnung für die Schwestern erstellt werden. Drei Plätze standen zur Diskussion: Einer neben dem Farrenstall (heute Gießelbachstraße), also in Ortsmitte, einer am Ortsende zum Altenbruch und einer im Neudorf, nahe der soeben erschlossenen Straße nach Honau. Durch Abstimmung entschied sich die Bevölkerung für diesen Platz, der auch, nach der Erweiterung, noch großzügige Möglichkeiten bietet. Allerdings mussten vor Baubeginn 1.000 Fuhren Kies eingebracht werden, weil der Platz zu tief lag.

Die Finanzierung schuf große Probleme – man hatte doch sehr exakte und keineswegs zu bescheidene Vorstellungen. Bürgermeister Sänger wurde fünfmal beim Kultusministerium in Karlsruhe vorstellig; er wurde mit „Beamtentrost“ abgespeist. Schließlich reiste er und Pfarrer Bauer zum Innenministerium. „Minister Maier (SPD) war sehr zuvorkommend und versprach mir, einen Zuschuss zu gewähren“, berichtet Karl Sänger. Bald gingen 8.000 Mark ein. Diese Zuweisung wurde wohl auch durch die erstaunlichen Opfer und Eigenmittel veranlasst. Die Baupläne erstellte ein Bekannter des Bürgermeisters kostenlos. Karl Sänger und Pfarrer Bauer schrieben an alle auswärts wohnenden Leutesheimer. 126 Briefe gingen hinaus – bis nach Perth in Australien. Der Erfolg blieb nicht aus: 4.000 Mark kamen so zusammen, ein Zeichen großer Anhänglichkeit zum Dorf und seinem Kindergarten. Weitere 3.000 Mark hatte der Frauenverein angespart, den gleichen Betrag ergab eine Sammlung im Ort. Zusammen mit den verfügbaren Haushaltsmitteln von 10.000 Mark konnte der Bau nun bezahlt werden. „Die Fundamente machten mir die Arbeitslosen, welche ich neben ihrer Arbeitslosenunterstützung täglich eine Flasche Bier gab“, schreibt Karl Sänger. Weitere Stiftungen erleichterten den Bau, der Steinlieferant stiftete 700 Hartbrandsteine, Bauunternehmer Heidt, Auenheim, einen Storch aus Ton. Weitere Figuren (einen Hasen, einen Zwerg) andere Firmen. Vor dem Haus wurde ein Springbrunnen installiert, eine Stiftung des Sonnenwirts, Fritz Lehr. Eine Figur stiftete Eisenhändler Kapp aus Kehl.

Die Einweihung im Frühjahr 1934 war ein großes Fest. Die ganze Gemeinde war auf den Beinen, dennoch beherrschten die Kinderschwestern aus Nonnenweier, die zahlreich angereist waren, das Bild. Pfarrer Ferdinand Bender, seit 1928 Vorsteher des Mutterhauses in Nonnenweiher, Pfarrer Hager aus Nonnenweier, vor allem aber Pfarrer Wilhelm Ziegler, Leiter der „Inneren Mission in Baden“ und Herausgeber eines grundlegenden Buches über Regine Jolberg sprachen. Bürgermeister Sänger und Pfarrer Bauer kamen zu Wort, die Freude über das neue, herrliche Gebäude war groß und ehrlich.

Wie damals, so war durch die Jahrzehnte hindurch der Kindergarten Anliegen der ganzen Einwohnerschaft. Die Aufteilung der Verantwortung hat sich bewährt (Kirchengemeinde: Trägerschaft, Bürgerliche Gemeinde: Eigentümerin der Liegenschaft). Dies zeigte sich auch im Jahr 1962, als die Erweiterung (zweiter Gruppenraum) in Angriff genommen wurde. Durch hohe Eigenleistungen konnte die Finanzierung bewältigt werden.

Einige der Kinderschwestern sind in der Erinnerung noch sehr lebendig. Von ihnen wird viel Gutes berichtet. Sie waren mit großer Geduld, viel Liebe und Erfahrung bei der Sache. Der Arbeitstag war lang, die Kinder lebhaft und abends waren noch die Räume auszufegen. Für die Reihe der Schwestern mögen einige Erinnerungen gelten, die Schwester Margarethe Peipp mitgeteilt hat.

Einweihung des neuen Kindergartens (1934)


Brunnen vor den Kindergarten


Beim Spazierengehen (um 1935)
 

Im Dorf (1955)

Sie lebt heute, 92jährig, bei ihrer Schwester im Fränkischen. 1921 trat sie in Nonnenweier ein, ihr „Haubenspruch“ steht in Eph. 6, 10: „Seid stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke“. 1931 kam sie – nach einer Tätigkeit in Meißenheim – hierher, wo sie bis 1953 blieb. Im Krieg wurden sie und die Kinder evakuiert, der Kindergarten war geschlossen. Schwester Margarethe half in der Waschküche der großen Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall, wohin auch das Mutterhaus Nonnenweier evakuiert worden war. Nach Kriegsende fand sie hier den Kindergarten beschädigt, aber doch benutzbar vor. Eine Bombe hinter dem Haus hatte glücklicherweise nur Dach, Türen und Fenster beschädigt. Da die Kirche wegen schwerer Schäden nicht benützt werden konnte, wurden auch alle Gottesdienste, Frauen- und Gemeindekreise im Kindergarten abgehalten.

Die Wohnung im Obergeschoss des Altbaus, früher Schwesternwohnung, diente später dem „Jugendtreff“, der offenen Jugendarbeit der Kirchengemeinde.

Das jährliche Kindergartenfest im Frühsommer im weitläufigen Gelände hinter dem Haus will der Gemeinschaft dienen und Zeichen des Dankes sein.

Unterwegs auf der Badener Straße.
 

1939


1956


1961



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Aktives Dorf Leutesheim, April 2009