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Leutesheim in den letzten 100 Jahren
 
∙ Krieg und Evakuierung

Ein Auszug aus dem Buch "Leutesheim - ein Dorf im Hanauerland und seine Kirche"

von H. Schäfer, U. Schüz u. a., 1990

Der Ausbruch des 2. Weltkrieges am 1. September 1939 führte schon am ersten Kriegstag bei uns zur sofortigen Evakuierung der Zivilbevölkerung. Die Leutesheimer kamen mit Lastkraftwagen und Bussen zunächst nach Oppenau und dann mit der Bahn in der Hechinger Gegend nach Boll und Jungingen am Hohenzollern. Nach einiger Zeit ging es weiter nach Lauingen und Dillingen in Bayern. Auch Leute aus Auenheim, Neumühl und Marlen waren in diesen Orten.

Zuhause an der Rheingrenze war es anfangs noch sehr ruhig. Karl Sänger berichtet über diese Tage, dass von der Begeisterung, die anno 1914 herrschte, nichts zu spüren gewesen sei. Die Bunker waren von badischen Truppen besetzt, jenseits des Rheins lagen Elsässer. Es sei geradezu friedlich gewesen, und an Weihnachten 1939 hatten die deutschen Truppen sogar einen Weihnachtsbaum auf einem Sporen aufgestellt mit brennenden Lichtern, und auf beiden Seiten hätten die Soldaten „Stille Nacht“ gesungen. „Beide Teile grüßten sich morgens und abends“, berichtet Karl Sänger.

Dieses friedliche Nebeneinander sollte nicht lange anhalten. Auf deutscher Seite wurden die Truppen ausgewechselt. Es wurde, wohl mehr aus Übermut, hinüber- und herübergeschossen, sodass bald die Feldarbeit unmöglich war, vor allem im Feldwörth. Eine Granate schlug im Dorf ein und beschädigte das Anwesen von Kirchendiener Friedrich Durban schwer.

Von Anfang an spielte die Propaganda „für Volk und Vaterland“ eine große Rolle. Die Jugend, straff organisiert, wurde mit vielerlei Diensten und Aufgaben betraut und beschäftigt. Es gab immer etwas Neues, so hielt man das Jungvolk bei der Stange. Hier wurde die Anlage von Bauerngärten vorgeführt und betrieben. Oft gab es bei den Baracken im Langensand etwas zu tun. Als sich die Krankenhäuser in Straßburg mit Verwundeten füllten, wurden die Genesenden auf die Dörfer eingeladen.

Bei Ausbruch des Frankreichfeldzuges im Juni 1940 wurden die Leutesheimer am 14. Juni wieder evakuiert. Sie kamen nach Ulm bei Oberkirch, wo sie allerdings nur ca. 10 Tage bleiben mussten.

Am 22. Juni 1940 schlossen Deutschland und Frankreich einen Waffenstillstand, damit war die unmittelbare Gefährdung bei uns vorüber. Das Leben ging weiter, die Bedrohung des sich ausweitenden Krieges war immer stärker spürbar. Die Männer waren eingezogen, die Landwirtschaft musste von den Frauen, Kindern und den Alten umgetrieben werden. Der Trauerfreier in der Kirche für die in der Fremde gefallenen jungen Soldaten gehört zu den schmerzlichsten Erinnerungen des Krieges.

Die Jungmädels legen einen „Bauerngarten“ an. 1939 beim Zollhaus


Soldaten vom Luisenstift Straßburg (damals Lazarett) zu Gast bei der Jugend im Dorf, 1943



 

Mit der Invasion der alliierten Truppen am 6. Juni 1944 in der Normandie nahm der Krieg nun endgültig eine bittere Wendung. Die Fliegerangriffe erfolgten häufiger, mehr und mehr wurden auch einzelne Ziele, die Bahn, Fuhrwerke und schließlich einzelne Personen beschossen. Schutzgräber an der Straße mussten ausgehoben werden, die älteren Schüler, Rentner und Frauen wurden dazu verpflichtet.

Ein besonders schwerer Bombenangriff im Sommer 1944 auf die Häfen Kehl und Straßburg beunruhigte die Bevölkerung stark. Mit ihm begann die letzte Phase des Krieges. Am 23. November 1944 fiel Straßburg. Schon Wochen vorher besetzten die Alliierten die Orte in der Umgebung. Karl Sänger berichtet, dass die Besatzung des Forts Franzeski bei Wantzenau über den Rhein um Hilfe gerufen habe. Je eine Infanterie- und eine Kompanie Sturmpioniere, die in den Bunkern rechts des Rheins stationiert waren, bemühten sich um einen geordneten Rückzug der bedrängten Soldaten aus den linksrheinischen Stellungen. Mit Sturmbooten fuhren sie nachts über den Rhein, um vor Tieffliegerangriffen sicher zu sein Der Rhein führte damals Hochwasser und wurde zum reißenden, breiten Strom. Karl Sänger berichtet: „Gegen Mitternacht war auf dem Rhein großes Geschrei, wir glaubten, der Feind setz über“. Am nächsten Morgen wurde bekannt, dass eines der Boote gekentert war. Von rund 50 Insassen hätten nur zwei überlebt. Auch die Orientierungshelfer mit Lampen und Fackeln kamen zu spät für die Verunglückten.

Die Schreie der schwimmenden Soldaten seien noch lange zu hören gewesen, wahrscheinlich hatten sich mehrere an Ästen im eiskalten Wasser einige Zeit festhalten können.

Else Reiff berichtet über diese Zeit in ihrem Kriegstagebuch:
„Am Donnerstag, dem 7. Dezember 1944 detonierten die ersten 3 Granaten im Dorf. Drei Tote musste Litze beklagen: Frau Luise Schütt, deren Sohn Fritz sowie Friedel Lehr.
Wie schon am 14. Juni 1940 musste die Bevölkerung den Ort durch Räumungsbefehl verlassen und wurde nach Ulm bei Oberkirch evakuiert.
Friedel Lehr (14 Jahre) leistete ihr Pflichtjahr bei Frau Anni Hummel ab. Dies war erforderlich, um einen Beruf erlernen zu können. Eine der 3 Granaten detonierte an der Straße vor dem Haus Hummel. Friedel Lehr wurde im Zimmer durch einen Granatsplitter am Kopf schwer verletzt und war sofort tot.
Viel Staub und Schutt erschwerten die Bergung der Toten. Frau Hummel brachte ihre beiden Jungen ins Beckejoggls Keller in Sicherheit. Die Mutter von Friedel Lehr machte sich auf die Suche und fand ihre Tochter (14 Jahre) tot. Hermann Schneider und Fritz Stiefel brachten die Tote in ihr Elternhaus.
Luise Schütt und ihr Sohn Fritz wurden auf dem Weg von ihrem Haus nach Kohle-Karch’s Keller von der zweiten Granate getroffen.
Die dritte Granate forderte keine Opfer.
Die Toten waren in ihren Häusern aufgebahrt. Särge hatte der Schreiner für alle Fälle im Vorrat.“

Erschüttert vom Kriegsgeschehen und dem Verlust lieber Menschen verließen die Angehörigen mit der übrigen Bevölkerung das Dorf am 8. Dezember 1944.

In der hellen Mondnacht hoben drei Männer die Gräber aus. Auf einem Bauernwagen schoben sie die Särge mit den Toten zum Friedhof, um sie am anderen Morgen zu begraben.

Des starken Beschusses wegen konnten zur Beisetzung der Toten keine Angehörigen anwesend sein.

Karl Heidt sprach über den offenen Gräbern das Vaterunser. Friedrich Thorwart und Wilhelm Kuder sangen mit ihm zusammen „So nimm denn meine Hände“.

Es mussten also zum 3. Mal die Koffer gepackt werden. Mit Fuhrwerken, Schleppern oder mit dem Fahrrad ging es nach Ulm in dieselben Quartiere wie 1940. Rund 850 Personen kamen in das Dorf, das damals etwa 900 Einwohner hatte. So waren die Unterkünfte oft beengt und behelfsmäßig, die Lebensmittel und das Viehfutter knapp.

Ein nächtlicher Pendelverkehr kam in Gang, damit das Notwendigste herbeigeschafft werden konnte. David Kimmer (später Bürgermeister), Karl Hummel und vor allem Karl Baas fuhren mit ihren Traktoren fast täglich nach Leutesheim, wegen der Tiefflieger erst nach Einbruch der Dunkelheit. Vor allem Karl Baas ließ sich auch durch starke Kälte und Jagdflieger nicht von den Fahrten abhalten.

Eichen mussten für Rüstungszwecke abgeliefert werden.
 

 

Sogar die Butterfässer mussten abgeliefert werden, damit nicht “schwarz“ gebuttert werden konnte.

 

Rund fünf Monate dauerte diesmal die Evakuierung. Da die Gemeinde Ulm ohne Bürgermeister war, wurde Karl Sänger mit der kommissarischen Verwaltung beauftragt. Es war eine Zeit der Sorge und Unsicherheit. Noch bildete der Rhein die Frontlinie, aber schwere Eisenbahngeschütze, auf den Stichbahnen im Acher- und Renchtal stationiert, schoss weit über die Grenze. Die Antwort waren immer wieder Tieffliegerangriffe.

Durch die lange Abwesenheit verloren viele Familien teilweise oder ganz ihr Vieh. Manche konnten es bei Bekannten oder Verwandten in Legelshurst, Holzhausen oder anderswo unterstellen, aber das Futter war knapp, so blieb manchmal das Vieh sich selber überlassen. Die Traktorfahrer brachten hin und wieder eine fremde Kuh mit, die sie aufgegriffen hatten. Karl Sänger gibt folgende Verlustzahlen durch die Evakuierung an: 14 Pferde, 254 Stück Rindvieh, 267 Schweine, 86 Ziegen, 1426 Stück Geflügel.

Die letzten Kriegswochen brachten schließlich noch einen gezielten Bombenangriff auf unser Dorf. Am 24. Februar 1945 warfen feindliche Flieger 26 Bomben ab, es gab schwere Gebäudeschäden. Der Angriff wurde offenbar ausgelöst durch eine kleine Abteilung Soldaten, die mit einem Geschütz ständig über den Rhein schossen, eines jener Manöver, deren Sinn wohl auch den Soldaten damals nicht ganz klar war. Auch die Kirche und die Orgel wurden schwer beschädigt. Tote gab es nicht, da nur wenig Menschen im Dorf waren. Ein Verschütteter konnte verletzt geborgen werden.

Nun rückte die Front von Norden her näher, die ersten Panzer rollten an, am 14. April wurde das Dorf ohne Zwischenfälle besetzt, obwohl der Ortsgruppenleiter (und Bürgermeister) noch, kurz bevor er mit seinem Motorrad das Weite suchte, die drei Brücken an den Dorfeingängen sprengen ließ. Es waren meist Marokkaner, die hier einquartiert wurden, der Offizier der Truppe war ein „anständiger Mann“, schreibt Karl Sänger. Beim Abzug der Abteilung gab es dann noch Aufregung: Die Soldaten zündeten neun Häuser an, drei konnten gerettet werden. Am 16. April marschierten die Franzosen dann auch in Ulm ein. Am Ortseingang wurde geschossen. Georg Karch schwenkte ein weißes Tuch, worauf das Schießen eingestellt wurde. Dann fuhren Panzer durch die Dorfstraßen. Da das Dorf jedoch von deutscher Artillerie von Oberkirch aus beschossen wurde, mussten die Bürger noch einige Tage in den Kellern verbringen.

Folgende Leutesheimer verstarben in Ulm und wurden dort beerdigt:
   Friedrich Hummel, Maurer, 84 Jahre
   Karoline Keck, geb. Klemens, 77 Jahre
   Barbara Hummel, geb. Zimmer, 74 Jahre
   Barbara Kimmer, geb. Hetzel, 80 Jahre
   Sophie Kimmer, geb. Schneider, 80 Jahre
   Michael Volk, 64 Jahre. Er wurde beim Transport von Heu und Stroh nach Ulm zwischen Bodersweier und Zierolshofen durch einen Baumast vom Traktor geworfen und hierbei tödlich verletzt.

Ende April 1945 waren die meisten Bürger wieder zuhause. Das Dorf sah schlimm aus: Schutt und Trümmer auf den Straßen, es fehlte an allem, neben dem Mangel an Lebensmitteln begann ein großes Suchen an Baumaterial. Vor allem mussten die Dächer repariert werden. Bit Brettern, Schilf und Stroh behalf man sich, bis es wieder Ziegel gab. Viele Familien wohnten bei Bekannten, da ihre Häuser unbewohnbar waren. In den Häusern sah es nicht besser aus: die Einrichtung geplündert und zerschlagen, Öfen und Herde unbrauchbar. Auch außerhalb des Dorfes ein trostloses Bild: Die Felder zerwühlt und von Gräbern durchzogen, 15 km Schützengräben und Drahtverhau befanden sich zwischen den Bunkern. Das Einebnen geschah meist von Hand. Die Gottesdienste fanden vorerst im Kindergarten statt, dieses Gebäude war nur leicht beschädigt.

Unter dem 20. Mai 1945 schreibt Karl Sänger an die Gemeinde Ulm. Er schildert in seinem Schreiben die Situation, die die Leutesheimer bei ihrer Rückkehr angetroffen haben, vor allem aber spricht er den Bürgern der Gemeinde Ulm den Dank für die Aufnahme in schwerer Zeit aus. „Der Name Ulm wird bei unseren Nachkommen einen guten Klang haben“ schließt Karl Sänger.

Karl Sänger führt in seinem Bericht eine – sicher unvollständige – Aufzählung über das Ausmaß der Zerstörungen in Leutesheim und den Nachbardörfern auf:

Ort Gebäude-bestand leicht mittel
(bis 50 %)
schwer
(über 50 %)
unbeschädigt
           
Auenheim 359 243 90 24 2
Bodersweier 252 85 3 4 160
Diersheim 155 19 18 6 112
Honau 91 75   5 11
Leutesheim 236 159 36 34 7
Linx 156 132 14 7 3
Neumühl 134 40 27 47 20



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Aktives Dorf Leutesheim, August 2009